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Das Lager „Stvor“

Von Robert Latypov , Co-Vorsitzender des „Jungen Memorial“, Perm

Ursprünglich wollte ich lediglich den Abschlussbericht für eines der Projekte verfassen, die wir, das Zentrum für demokratische Jugendinitiativen, im Bereich Freiwilligenarbeit durchgeführt haben.
Doch meine Gedanken schweiften während des Schreibens ab und der von mir verfasste Text entwickelte sich in Richtung einer Bestandsaufnahme unserer Tätigkeit.
Er gibt Auskunft über die Hintergründe und unsere Motivation ein „Museum ohne Museumsführer“ aufzubauen, das den stalinistischen Terror im Permer Gebiet zum Thema hat. Der Text zeigt unseren Zugang zur Problemstellung. Er erläutert das dem Museum zugrunde liegende pädagogische Konzept und verdeutlicht die Gründe für die gewählte Darstellungsform, nämlicher die einer materiellen Rekonstruktion des Ortes, mit deren Hilfe die Erinnerung an den staatlichen Terror in der Sowjetunion bewahrt werden soll. Ohne diese zusätzlichen Informationen sind sowohl die Ergebnisse als auch die Perspektiven des Jugendprojekts „Stvor“ nicht verständlich. Der Artikel gibt meine persönlichen Gedanken darüber wieder, welche Aufgaben und Schwerpunkte Memorial Perm gegenwärtig in der Arbeit mit Jugendlichen verfolgen sollte, um das Interesse an der Auseinandersetzung mit der tragischen Seite der Geschichte des 20.
Jahrhunderts zu wecken.

Die Idee, ein Sommerlager in Stvor zu veranstalten, kam uns nicht sofort in den Sinn. Sie kam jedoch auch nicht völlig zufällig auf. Seit vielen Jahren veranstalten wir unter der Bezeichnung „Po rekam pamjati - Auf den Flüssen des Gedächtnisses“ historische Expeditionen in der Permer Region mit dem Ziel, ehemalige Lagerpunkte und Sondersiedlungen zu erfassen, diese zu kartographieren und Zeitzeugeninterviews mit ehemaligen Repressierten vor Ort zu führen. Wir blickten bereits auf die Erfahrung von drei
Dutzend von uns durchgeführter Expeditionen zurück, als wir uns 2007 entschlossen, den ersten Turnus eines Sommerlagers auf dem Gelände des ehemaligen Straflagers Stvor durchzuführen. Die historischen Expeditionen waren immer ganz unterschiedlich ausgefallen.
Mit unterschiedlichem Schwierigkeitsgrad der Reiserouten wurden sie zu Wasser oder zu Fuß absolviert, wurden im aufkommenden Frühling, in sommerlicher Hitze oder im Frühherbst durchgeführt. Auch die Teilnehmer waren ganz verschieden. Manch einem fiel die Teilnahme an der Expedition ganz leicht, manch einem fiel sie schwerer. Ungeachtet all dieser Unterschiede waren sich die Ergebnisse jedoch ähnlich. Auf den Gesichtern der jungen TeilnehmerInnen zeigte sich ein erwachendes Interesse für die Geschichte der politisch motivierten Repressionen, die in unserem Land stattgefunden haben, für die Geschichte unserer Region, aber auch für die Probleme des gegenwärtigen Russland. Und wenn das Interesse nicht vollends geweckt wurde, so zeigte sich zumindest keine Gleichgültigkeit mehr.
Diese Beobachtung ermutigte uns und war Anstoß dafür weiterzumachen. Auch entwickelte
sich aus dieser Beobachtung der Wunsch, dieses aufkommende Interesse in etwas „konkret Erfahrbares“ umzusetzen. In etwas, das gesehen und verstanden werden konnte und von vielen Leuten wahrgenommen.

An und für sich erfüllten bereits die historischen Expeditionen diese Aufgabe. Denn im Zuge
der historischen Expeditionen werden die Überreste und Artefakte der Epoche des GULAG, seine Standorte fixiert und somit das Gedenken an die Opfer des Terrors bewahrt. Unser Archiv wird fortlaufend durch die Aufzeichnungen von Zeitzeugeninterviews ergänzt. Die Interviews werden in den von uns herausgegebenen Gedenkbüchern „Gody terrora - Jahre
des Terrors“ sowie exemplarisch auf unserer Homepage (www.pmem.ru) veröffentlicht. Sie
werden als Quellen für schulische Forschungsaufgaben oder universitäre Abschlussarbeiten herangezogen. Die von uns an den Standorten ehemaliger Straflager und Sondersiedlungen aufgestellten provisorischen Gedenkkreuze sind Wassertouristen und ansässigen Dorfbewohnern, insbesondere den Fischern und Jägern, schon lange ein Begriff. Die kleinen Pfade, die sich zu ihnen ausgetreten haben, die Blumen, die hier niedergelegt werden, ja allein die Tatsache, dass die Gedenkkreuze nicht dem Vandalismus zum Opfer fallen, zeugen davon, dass die Menschen der Erinnerung und dieser Form des Gedenkens nicht gleichgültig gegenüberstehen. Die Arbeit der jungen „Memorialer“ ist notwendig und wird geschätzt.

Für diese Einschätzung möchte hier ein weiteres Indiz anführen. In den letzten Jahren hatte ich desöfteren mit Reiseleitern zu tun, die Touristengruppen, sowohl Kinder als auch
Erwachsene, auf den Prikamer Flüssen und Wasserwegen begleiteten. Diese zeigten sich für die Erinnerungsarbeit von Memorial durchweg aufgeschlossen. Ihrer Meinung nach werden durch das Markieren mit Gedenkkreuzen Informationen zu den politischen Repressionen für jedermann leicht zugänglich gemacht. Die auffälligen Gedenkkreuze verstärken das Interesse der Reiseteilnehmer an der Region, der Geschichte ihres Landkreises. Sie sprechen das Bewusstsein an und führen oftmals zu spontanen Diskussionen zwischen den Reiseteilnehmern. Alle Reiseleiter, mit denen ich bisher in Kontakt stand, haben die Orte in ihre Karten und Reiseroutenplanung aufgenommen. Wie
ich meine, kann man aus diesen Indizien erste vorsichtige Schlüsse dahingehend ziehen, dass sich die Menschen nicht mehr vor der Vergangenheit ängstigen, sich ihrer nicht mehr schämen und auch lernen, über die schwierigen Momente der Vergangenheit zu sprechen. Dies betrifft insbesondere die Permer, aber nicht nur diese, was uns besonders freut.

 Selbstverständlich befriedigen die Gedenkkreuze und –obelisken mit ihren Kurzinformationen das Bedürfnis nach Information nur zum Teil. Ganz zu schweigen von dem Bestreben, die Erinnerung tiefer in der Gesellschaft zu verankern oder die Tradierung des Gedächtnisses von einer Generation zur nächsten zu sichern. Aber offensichtlich geben sie Anstoß nachzudenken. Für die jeweiligen ExpeditionsteilnehmerInnen stellt das von ihnen aufgestellte Gedenkzeichen ein sichtbares Ergebnis ihrer Gedenkarbeit an einem bestimmten Ort dar, z.B. ihrer Arbeit mit Zeitzeugen in der ehemaligen Spezialsiedlung Vil’va. Die Mehrzahl der Teilnehmer berichten einstimmig, dass die Installation der Gedenkkreuze bei ihnen das Gefühl hinterließ, ihre Forschungsarbeit sei nicht umsonst gewesen. Das Ritual des Kreuzaufstellens gibt ihnen das Gefühl, selbst Teil der Geschichte zu sein, auch für den Fall, dass sie sich weder vor noch nach der Expedition professionell mit Geschichtswissenschaften befasst haben oder mit ihr befassen werden. Gleichzeitig berichten viele TeilnehmerInnen davon, dass allein das Aufstellen der Gedenkkreuze zuwenig ist, um sich tiefer gehend mit dem Ort und seinen menschlichen Tragödien und Schicksalen, zu beschäftigen. Ausgehend von der Erfahrung vor Ort wollen sie sich zusätzliches Wissen aneignen. Ich könnte mir vorstellen, dass auch bei denen, die nach uns diese Orte aufsuchen, dieses Bedürfnis geweckt wird.

Warum sind wir von „Perm-36“ abgekommen?

 An dieser Stelle möchte ich einen kleinen Exkurs zu einem anderen Thema anführen. Als Leiter der Freiwilligenprojekte des „Jungen Memorial“ konnte ich früher dieses von mir beschriebene erwachende Interesse junger Erwachsener an der Geschichte und ihr Verlangen, aktiv am Bewahren von Erinnerung teilzuhaben, auf ein anderes von uns geleitetes Jugendprojekt lenken. Jährlich führt das „Junge Memorial“ zwei bis drei Workcamps auf dem Territorium des Museums für die Geschichte politischer Repressionen und Totalitarismus, „Perm-36“, unweit des Dorfes Kučino im Permer Gebiet durch. Lange schien es, als gäbe es keinen Ort, der sich besser dafür eigne. In „Perm-36“ ist die Geschichte lebendig. Denn an seinem Standort existierte von 1946 bis 1987 ein „echtes“ Straflager, das traurige Berühmtheit dadurch erlangte, dass in den letzten 15 Jahren seiner Existenz „politische Gefangene“ (sogenannte „uzniki sovesti – Gefangene aus moralischer Überzeugung“) in ihm interniert waren. Aus diesem Grund versammelte sich hier auch immer ein ganz spezifischer Personenkreis: Freiwillige, die aus allen Regionen Russlands anreisten, um am Aufbau der Gedenkstätte zu helfen, ehemalige Gefangene des Lagers „Perm-36“ mit ihren Zeitzeugenberichten über ihre Haftzeit, aber auch Aktivisten der Bürgerrechtsszene, die von ihren Erfahrungen im gegenwärtigen Russland sprachen und darüber, was es heißt, in einem Land, das bis vor kurzem noch vollkommen unfrei war, frei zu agieren. Lange war „Perm-36“ ein Anziehungspunkt für Jugendliche, die aktiv und mit ihren eigenen Händen etwas aufbauen und beeinflussen wollten. In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre und in der ersten Hälfte des folgenden Jahrzehnts bauten junge Freiwillige die Zäune des ehemaligen Lagers für das Museums auf, spannten Stacheldraht, weißten und lackierten die ehemaligen Baracken, betonierten die Wege. Kurz: Sie halfen aktiv am Aufbau des Gulag-Museums mit. Oft führten sie unqualifizierte und körperlich schwere Arbeiten durch, doch ihre Arbeit war lohnend.
Freiwillige und Mitarbeiter von Memorial nahmen hier sowohl an der jüngeren Vergangenheit unseres Landes als auch an unserer Gegenwart Anteil. Dabei haben wir uns als Akteure der Geschichte verstanden. Die meisten empfanden das damals so. Dabei war (und ist auch heute noch) der Abstand zwischen der postsozialistischen Gegenwart und der sozialistischen Vergangenheit nur klein. Die Gegensätze beider Systeme erschienen uns damals besonders prägnant und zu stark war der Wunsch, Teil von etwas Neuem und Interessantem zu sein, das den traditionellen Vorstellungen über die heldenhafte Geschichte unseres Landes entgegenstand.

Seit damals hat sich vieles verändert. Und wie mir scheint, hat das Museum Perm-36 für die jüngere Generation von Freiwilligen an Spannung, ja an Glanz verloren, der ehemals von der erst kürzlich aufgedeckten jüngeren Vergangenheit und von der aktiven Teilhabe an der Wiederherstellung der geschichtlichen Wahrheit ausgegangen war. Dank seiner Einzigartigkeit wurde „Perm-36“ als einzige Gulag-Gedenkstätte auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion faktisch zu einem Markenzeichen des Permer Gebiets. Der Ort gewann in den letzten Jahren enorm an Popularität. Nicht nur für die Allgemeinheit und die Medien, sondern auch für den Staat. Gelder für die Aufbauarbeiten und die Bildungsarbeit werden heute aus dem Landesbudget des Permer Gebiets zur Verfügung gestellt (Was kostet schon allein das Internationale Forum „Pilorama – Sägewerk“!). Im Gegensatz zu früher können heute Fachkräfte für die Aufbauarbeiten herangezogen und vor allem bezahlt werden. Ehrenamtliche Arbeit ist nicht mehr erforderlich. Während der Sommerlager, die weiterhin auf dem Gelände des Museums stattfinden, werden vorrangig Arbeiten zur Flurbereinigung durchgeführt. Im Grundsatz ist daran nichts auszusetzen. Es gab Zeiten, in denen konnte man nur von einer derartigen Entwicklung träumen. Und vor allem davon, dass die Gedenkstätte nicht durch ehrenamtliche Arbeit und die Finanzierung durch ausländische Stiftungen getragen wird, sondern durch Bundes- und Landesmittel, unterstützt vom Staat und der regionalen Struktur. Auch das Bestreben der Gedenkstättenverwaltung, öffentlichkeitswirksam zu arbeiten, ist genauso nachvollziehbar wie ihre Zielsetzung, in der Öffentlichkeit als „Museum“ wahrgenommen zu werden. Diese Museumsarbeit beinhaltet Führungen, thematische Schwerpunktsetzungen, Ausarbeitung von Lehrveranstaltungen für Schüler und die Entwicklung von Wanderausstellungen. Das alles ist richtig, und mit großer Wahrscheinlichkeit sind die dahingehenden Entwicklungen nur folgerichtig, ganz ungeachtet davon, ob das Museum durch den Staat, durch private Initiative oder von einer nichtstaatlichen Organisation gegründet worden ist.

Für uns als Permer Memorial stellt sich jedoch die Frage, wie wir mit den Interessen der jungen Leute umgehen sollen, die „mehr“ für sich erwarten als an den Flur- und Reinigungsarbeiten auf dem Gelände des Museums teilzunehmen. Sie wollen ihr Bedürfnis nach einem Verständnis der tragischen Geschichte unseres Landes in die Praxis umsetzen, wollen teilhaben an der Wiedererschaffung der Geschichte, wollen sie zu einem Gemeingut für einen großen Kreis von Menschen machen. Unsere Aufgabe als Memorial ist es, ihnen diese Möglichkeit zu geben. Wir müssen ihnen die Teilhabe an Projekten ermöglichen, die sie in die Rolle von geschichtlichen Akteuren versetzt, in die Rolle von Menschen, die etwas erschaffen. Es müssen unterschiedlichste Bürgerinitiativen entstehen (und Gott sei Dank entstehen diese auch), durch die der man unmittelbar in der Geschichte leben und versuchen kann, ihre Widersprüche und manchmal auch ihre Tragik auszuhalten.

 Wenn die Geschichte des staatlichen Terrors in unserem Land von der Gesellschaft weiterhin nicht „verdaut“ werden kann, wenn sie nicht Teil des Bewusstseins jedes Staatsbürgers wird, wenn sie nicht in direkten Kontakt mit den Menschen kommt und hie und da Konflikte mit den Stereotypen und Mythen der sowjetischen Epoche hervorruft, wenn auf all die Fragen nach dem „Warum“ immer nur die Klassiker zitiert werden, nur die Geschichtswissenschaftler erreicht werden und keinerlei breite Diskussion stattfindet oder die Möglichkeit gegeben ist, selbst etwas zu tun – so wird diese Geschichte weiterhin formal und inhaltsleer bleiben. Oder, was noch schlimmer ist, sie wird mit der Billigung der gegenwärtigen Machthaber auf einen kleinen Kreis beschränkt, der für sich in Anspruch nehmen darf, als einziger über diese Themen zu sprechen.

Es mag sein, dass meine Ausführungen dem einen oder anderen zu sehr zugespitzt und vielleicht sogar als unnötig apokalyptisch erscheinen. Aber erst die ganz offensichtliche Tendenz des gegenwärtigen Staates, eine Geschichtspolitik zu verfolgen, die wenn nicht direkt, so zumindest indirekt die Vergehen und Verbrechen des sowjetischen Regimes an seinen Bürgern rechtfertigt, hat mich zu diesen Überlegungen geführt. Denn diese Art der Geschichtspolitik wird mit stillschweigendem Einverständnis von der Gesellschaft toleriert. Und wenn man in diese Beobachtungen einbezieht, dass es immer weniger Möglichkeiten für Nichtregierungsorganisationen gibt (und dies trifft vor allem auch auf Memorial zu), auf die Gesellschaft Einfluss zu nehmen und aufzuzeigen, dass das Thema politische Repressionen an Aktualität und Bedeutung nichts verloren hat, so lässt mich das alles zusammengenommen zu dem Schluss kommen, dass wir selbstkritischer sein müssen und unsere früheren Erfolge und das, was wir bereits erreicht haben, nicht allzu sehr romantisieren dürfen.

Jeder, der Geschichte betreibt und sich auf die Betrachtung der politischen Repressionen in
der Sowjetunion spezialisiert hat, setzt unterschiedliche Prioritäten bei der Wahl der Themen und der Art ihrer Darstellung. Das macht auch die Spezifik unserer Zugänge und Formen der Auseinandersetzung aus. Für Memorial Perm hatte das Prinzip der aktiven Teilnahme immer schon die höchste Priorität. Es beinhaltet nicht allein das Bestreben, Menschen über den staatlichen Terror zu informieren und aufzuklären, sondern deren aktive und bewusste Teilnahme an der Wiederherstellung und Festigung der Erinnerung und des Gedächtnisses mit dem Ziel, die Auswirkungen der totalitären Vergangenheit in der heutigen Gegenwart zu überwinden. Für uns ist es von besonderer Bedeutung, das Verständnis für „diese“ Geschichte mit der Möglichkeit für jeden Einzelnen zu verbinden, an der Erinnerungsarbeit und der Bewahrung des Erinnerung zu partipizieren,. Ich möchte dieses Prinzip unserer Arbeit fast noch zugespitzter formulieren: Für uns ist die aktive Teilhabe von größerem Wert als die Arbeit mit wissenschaftlichen Forschungsergebnissen oder die herkömmliche Bildungsarbeit, in der die Menschen für gewöhnlich als passive „Komsumenten“ von Informationen, als „Objekte“ unserer Bildungsanstrengungen erscheinen und nicht als „Subjekte bzw. Akteure“, die aktiv am Prozess teilhaben. Sowohl früher als auch heute ist dieser Gedanke das Fundament der Projekte von Memorial Perm im Bereich Ehrenamtlichkeit, Freiwilligenarbeit und Menschenrechten.

Jedes dieser Projekte ist ein Experiment, wir sind immer auf der Suche. Und man kann kaum erwarten, dass die gewünschten Ergebnisse augenblicklich erzielt werden können. Vielmehr ist unsere Arbeit eine Tätigkeit, die auf die Zukunft gerichtet ist. Darauf, dass irgendwann (und wir sind davon überzeugt!), die Zahl derer, die unseren Themen nicht mehr gleichgültig gegenüber steht, zunimmt. Eines dieser Experimente des „Jungen Memorial“ in Perm ist das Sommerlager Stvor.

Wie alles begann…

Im Mai 2005 habe ich mich auf einer der von uns durchgeführten Expeditionen mit meinem Freund Aleksandr Zacharov über die Perspektiven und Effektivität unserer Projekte im Bereich der Freiwilligenarbeit unterhalten. In unserem Gespräch ging es darum, wie wir innovative Ideen mit unseren althergebrachten Prinzipien und Werten vereinbaren könnten, um unsere Arbeit weiterzuentwickeln. Welche Möglichkeiten es neben der Arbeit am Museum „Perm-36“ geben würde, um im Rahmen unserer Projekte, die jungen Freiwilligen über die Form, wie die Erinnerung bewahrt werden soll, selbständig und unabhängig entscheiden zu lassen.

Aleksandr brachte die Ideauf, ein Sommerlager in Stvor zu durchzuführen. Ich muss ehrlich zugeben, dass mich der Gedanke an ein Sommerlager in Stvor anfangs nicht besonders begeistert hat. Denn Aleksandr hatte einen denkbar ungünstigen Ort dafür vorgeschlagen.

Ähnlich „Perm-36“ befindet sich in Stvor ein ehemaliger Lagerpunkt. Es liegt ebenfalls am Flusslauf der „Čusovaja“, jedoch im Unterschied zur Gedenkstätte Perm-36 weitere 20 km nördlich stromabwärts von der Stadt „Čusovoj“. Der Ort ist vollkommen abgelegen, keine Siedlung liegt in näherer Umgebung. Vom ehemaligen Lager sind wenige Überreste erhalten, denn sowohl Touristen als auch die lokale Bevölkerung haben in den 1970-1990er Jahren alles Brauchbare weggetragen. Der Ort ist verwildert, zugewachsen mit Weiden- und Birkengehölz. Der Ort ist zu unwirtlich, um auch nur allein ein Zelt aufzuschlagen. Für größere Gruppen jedoch ergeben sich weitere Schwierigkeiten: Es ist kaum Feuerholz vorhanden, es mangelt an sauberem Trinkwasser. Im Sommer tummeln sich Mücken und Bremsen und im Dickicht des Unterholzes schlängelt sich die eine oder andere Natter. Eine Mobilfunkverbindung mit der Stadt gibt es nicht. Ja, selbst die Landschaft ist nicht reich an Schönheit, vor allem wenn man weiß, welche landschaftlichen Reiz der Flusslauf der Čusovaja sonst für Touristen bereithält. Zudem ist der Zugang nach Stvor nur über den Wasserweg möglich. Dabei müssen die Expeditionsteilnehmer ihre Verpflegung vollständig selbst mitbringen. Kurzum: Die Idee hat mir anfangs nicht sonderlich gefallen. Nach und nach wogen wir jedoch Vor- und Nachteile ab und realisierten, dass die Vorteile gegenüber den Nachteilen überwiegen.

Erstens hat der Ort eine lange und reichhaltige Lagergeschichte. Bereits 1942 wurde im Zuge der staatlichen Entscheidung über den Bau des Ponyšer Wasserkraftwerks am Fluss Čusovaja ein Straflager in Stvor eingerichtet. Denn in den ersten und schwersten Kriegsjahren waren für die Versorgung der Prikamer Industrie neue Energiequellen erforderlich. Die Staatsmacht sah die Lösung der Energieprobleme nicht nur im schnellen Aufbau neuer Kohleschächte, sondern auch im Aufbau einer Reihe kleinerer Wasserkraftwerke entlang der Flussläufe der Flüsse Us’va, Vil’va und Čusovaja. Verantwortlich für ihre Errichtung war die Hauptverwaltung der Lager (GULAG), die dem Volkskommissariat für Inneres (NKVD) unterstand. Als Arbeitskräfte wurden in erster Linie Häftlinge herangezogen, die in den speziell dafür eingerichteten Besserungsarbeitslagern des Ponyšlag, Široklag und anderen Lagerabteilungen interniert waren. Die Verwaltung des Ponyšer Lagerkomplexes befand sich an der Eisenbahnstation Vsevsjatskaja, das Hauptlager jedoch wurde nahe der Siedlung Stvor eingerichtet, da an dieser Stelle der Hauptdamm errichtet werden sollte. Tausende Menschen, darunter die Mehrzahl sogenannte „politische Häftlinge“, die nach dem Paragraphen 58 des Strafgesetzbuches der RSFSR verurteilt worden waren, mussten hier im Dickicht der Taiga Holzfällerarbeiten verrichten, Baumstümpfe roden, das Fundament des Staubeckens legen und das Fundament des zukünftigen Wasserkraftwerks erbauen. Die Gefangenen förderten Kohle, bauten Baracken sowie weitere Wohn- und Wirtschaftsgebäude. Da für die Errichtung des Wasserkraftwerks lediglich zwei Jahre eingeplant waren, wurden in den ersten Jahren nur provisorische Gebäude errichtet. Hunderte Menschen starben an den Folgen der schweren Arbeits- und Lebensbedingungen. Das Wasserkraftwerk wurde jedoch nie fertig gestellt, weil 1944 die Pläne verändert worden waren. Das Straflager wurde schließlich als Filtrationslager für ehemalige sowjetische Kriegsgefangene genutzt, die aus deutschen Konzentrationslagern zurückkehrten. Im Jahr 1946 erhielt der Lagerpunkt №1 «Stvor» der Besserungsarbeitskolonie (ITK) №10 den Status eines Lagers für schwere Zwangsarbeit (prinuditel’nye katoržnye raboty), in dem bis 1953 erneut vorrangig politische Gefangene untergebracht waren. Durch das neue, erschwerte Haftregime war die Sterblichkeitsrate der über 2500 Gefangenen sprunghaft angestiegen. Nach dem Tod Stalins und nach den Massenamnestierungen behielt das Lager seinen Status als Lager für Häftlinge bei, die aus
politischen Gründen verurteilt worden waren. 1962 wurde das Lager «Stvor» der Besserungsarbeitskolonie №10 in eine eigenständige Haftvollzugsanstalt mit normalen Haftbedingungen (obščij režim) umgewandelt. Unter der Bezeichnung №33 existierte es bis
1972. Mit der Auflösung des Lagers endete auch die Siedlungsgeschichte von Stvor kurze Zeit später. Im Jahre 1975 löste sich die Siedlung, in der bis zu diesem Zeitpunkt das ehemalige Wachpersonal des Lagers gelebt hatte, auf.

Für uns ist bei der Geschichte des Straflagers „Stvor“ von besonderer Bedeutung, dass Stvor das einzige Lager mit erschwerten Haftbedingungen war, das auf dem Territorium des Permer Gebiets (des damaligen Molotover Gebiets) in der Stalinzeit existiert hat. Es unterschied sich von anderen Straflagern durch äußerst schwere Haftbedingungen für die im Lager internierten Gefangenen, die, wie wir heute wissen, zu einem großen Teil unschuldig verurteilt worden waren. Diese Tatsache können wir nicht einfach ignorieren.

Für den Aufbau eines Erinnerungsortes hat Stvor noch einen weiteren Vorteil. Es ist aus wassertouristischer Perspektive äußerst günstig in einem Abschnitt der Čusovaja zwischen der Touristenbasis Ust’-Kojva und der Stadt Čusovoj gelegen - eine der populärsten Reiserouten von Wasserwanderern. Nach unseren Berechnungen passierten in der Saison 2005 rund 5000-6000 Touristen auf ihren Floßen, Kanus, Ruder- und Schlauchbooten diesen Ort. Darunter sind viele junge Erwachsene. Selbst wenn nur die Hälfte von ihnen eine kurze Pause in Stvor einlegen würde, so würden auf diese Weise eine ganze Menge Leute mit dem ehemaligen Lager und der Geschichte der politischen Repressionen im Permer Gebiet in Kontakt kommen. Ebenso würde die Besucherzahl ständig steigen, denn jährlich steigt auch die Anzahl der Touristen, die sich bis 2008 auf diesem Abschnitt bereits verdoppelt hat.

Und drittens waren die Schwierigkeiten bei der Durchführung des Sommerlagers bei genauerem Hinblick durchaus zu bewältigen. Die Reiseroute war uns bereits von anderen Expeditionen bekannt, bereits vier Mal hatten wir Stvor zu früheren Zeitpunkten passiert. Und im Gegensatz zu „Perm-36“, wo eine gut ausgestattete Infrastruktur existiert, die auch für zweiwöchige Aufenthalte geeignet ist, kampierten wir in Stvor anfangs nur je drei Tage, wofür wir lediglich Zelte aufschlagen mussten. Im September 2006 gingen wir auf Erkundungstour, um den Ort besser kennenzulernen, Pläne für ein erstes längeres Freiwilligenlager in Stvor zu schmieden und damit die ersten Schritte dafür zu machen, Stvor in die Permer Erinnerungslandschaft aufzunehmen.

Das erste Sommerlager in Stvor

Bei unserem ersten Aufenthalt erschien es uns besonders wichtig, den Ort von der Flussseite her kenntlich und zugänglich zu machen. Wie bereits erwähnt, ist der Zugang nur über den Flusslauf möglich und gerade von dieser Seite ist das ehemalige Straflager kaum sichtbar. Denn die Überreste werden Schritt für Schritt von der Taiga verschluckt. Wir wollten den Ort mit Hilfe von Gedenkzeichen, Symbolen oder Aufschriften „markieren“, mit etwas, was „ins Auge sprang“, Neugierde weckte und die Reisenden dazu aufforderte, hier anzuhalten.

Unsere zweite Aufgabe sahen wir darin, in irgendeiner Form kurze Informationen zum ehemaligen Lager Stvor anzubringen. Anfangs dachten wir an Informationstafeln, die wir aus Holz anfertigen und nebeneinander auf der Flussseite aufstellen wollten. Allerdings kam alles anders und nicht so, wie wir ursprünglich gedacht haben. Mit den Ergebnissen jedoch waren wir mehr als zufrieden.

Uns war von Anfang an wichtig, dass alle Materialien, mit denen wir arbeiten wollten, leicht
hergestellt werden konnten und billig waren (z.B. trockene Äste, Papier). Uns war klar, dass wir an diesem Ort nicht viel investieren dürften. Und das weniger wegen unserer Finanzmittel als vielmehr, um zu prüfen, ob unser Projekt Anklang fand und wie damit umgegangen wurde, ob es gar geplündert oder zerstört wurde. Von der Natur gar nicht zu reden: Wind, Regen, Schnee. Selbst wenn alles zerstört werden sollte, sollte es von der nächsten Freiwilligen-Gruppe leicht und schnell wieder aufgebaut werden können.

Ebenso war uns bewusst, dass alle Arbeiten in Stvor von den jungen Erwachsenen leicht durchgeführt werden konnten und keinerlei Qualifikation erfordern dürften. Wir sind von Anfang an davon ausgegangen, dass die Teilnehmer inspiriert von der Örtlichkeit ihre eigenen Ideen einbringen können und genau dazu stimuliert werden sollten. Stvor sollte zu einem Ort werden, an dem der persönliche Blick auf die russische Geschichte neue Formen der Bewahrung von Erinnerung, der Gedenkkultur hervorbringen sollte. Dem Improvisieren, der gemeinsamen Arbeit liegt das das von Memoiral Perm vertretene Aktivitätsprinzip zugrunde. Und wir haben uns darin nicht geirrt!

Im ersten Jahr stellte das Ministerium für Kultur und Jugendpolitik des Permer Gebiets Finanzmittel zur Durchführung des Projekts zur Verfügung, an dem 25 Jugendliche teilnehmen konnten. Unter ihnen waren Abiturienten, Studierende und arbeitende Jugendliche. Ebenso Kinder aus minderbemittelten und benachteiligten Familien. Den Hauptteil der Gruppe bildeten die Freiwilligen von Memorial, die bereits zuvor an unseren Expeditionen teilgenommen hatten. Für mich als Leiter des Projekts war es von besonderer
Bedeutung, dass die TeilnehmerInnen ungeachtet der großen Altersunterschiede, des Bildungsgrads und unterschiedlicher Lebenserfahrungen zu einer Gruppe Gleichgesinnter zusammenwuchsen. Das wurde greifbar im Enthusiasmus der Teilnehmenden bei der Umsetzung ihrer Ideen, der gegenseitigen Hilfe, des Respekts voreinander und der Bereitschaft, voneinander zu lernen. Dies wurde deutlich an den Gesprächen am Lagerfeuer, in denen die Geschichte unseres Landes nicht nach dem offiziellen Standard und nicht in heldenhaften Tönen diskutiert wurde.

Das wichtigste war, dass für den Großteil der TeilnehmerInnen das Sommerlager „Stvor“ zu
einer offenen Geschichtsstunde wurde, die ganz ohne Zwang und Belehrung auskam. Hier wurde nichts vorgetragen, keine „schrecklichen Geschichten“, sondern die jungen Menschen konnten sich selbst ein Bild machen, ganz in Ruhe das ehemaliger Lager abwandern, betrachten und begreifen, nachdenken und sich und den anderen Fragen stellen. Im Anschluss konnten sie etwas mit ihren Händen tun, mithelfen, das Gelände begehbar machen, Artefakte einer vergangenen Epoche, die unserer Generation nicht zur Gänze verständlich ist, dem Verschwinden zu entreißen. Sie konnten Spuren hinterlassen, die ganz ohne Doppeldeutigkeit davon zeugen, dass die Erinnerung an diese Geschichte bewahrt wird, lebt und weiterleben wird.

 Im ersten Jahr, Juli 2007, haben wir nur wenig erreicht. Das Wetter hatte uns einen Strich durch die Rechnung gemacht und wegen Regenwetters konnten wir von drei Tagen nur zwei Tage nützen. Die Basis jedoch wurde gelegt: wir konnten das ehemalige Lager für Touristen zugänglich machen. Wir säuberten das Territorium innerhalb des ehemaligen Arbeitsbereiches des Straflagers, mähten Gras und entfernten Stauden, um einen Platz frei zu räumen, den wir „Zentralplatz“ nannten. An einer erhaltenen Mauer des Werkstattgebäudes brachten wir mit großen Lettern die Aufschrift „Ehemaliges Politlager Stvor“ an. Auf der anderen Seite errichteten die Freiwilligen eine fünf Meter hohe Holzkonstruktion, die einen Wachturm nachbildet. Der Aufbau dieser Konstruktion war improvisiert, das heißt, die Freiwilligen hatten nicht geplant einen Wachturm aufzubauen, dem die Konstruktion aber letztlich ähnlich sah. Wie sich jedoch dann herausstellte, passte die Konstruktion besser als erwartet sowohl zur Atmosphäre des Ortes, als auch zu der Bestimmung der Konstruktion als Blickfang. Auf allen vier Seiten wurden Informationstafeln angebracht, die über die Geschichte des Lagers Auskunft geben. Auf einer Seite ist ein Lagerplan aus dem Jahr 1951 als Kopie aus dem Archiv angebracht. Ebenso haben wir Gebrauchsgegenstände aus dem Lageralltag befestigt: Gitter, Stacheldraht, Lampenteile und sogar eine Eisenbahnschiene, an die damals geschlagen wurde und deren Klang den Tagesablauf der Häftlinge bestimmte. Jeder, der an diesen Ort kommt, kann sie nun auch zum Tönen bringen und damit ist seine beginnende Bekanntschaft mit der Geschichte des Lagers markiert, ob er will oder nicht. Am Ende des Sommerlagers stellten wir zufrieden fest: Einfach, aber gut.

Auch hat uns gefreut, dass die zufällig vorbeikommenden Touristen, die in Stvor eine Pause
einlegten, durchaus positiv auf unsere Arbeit reagierten. Und wie sich später herausstellte, haben sie unsere Arbeit auch spontan fortgesetzt. Einige suchten auch nach unserer Abfahrt nach Artefakten und brachten diese zu den Informationstafeln an der Holzkonstruktion, darunter Geschirr, Gitter und sogar Teile der Scheinwerferanlage. Menschen, die keinerlei direkte Verbindung zur Tätigkeit von Memorial unterhalten, hatten den plötzlichen Wunsch etwas zu tun, das unserer Arbeit zu Gute kam und haben auf diese Art und Weise ihren Beitrag zu Erinnerung und Gedenken geleistet.

Das zweite Sommerlager

 Die Inspiration des ersten Sommerlagers wurde zur Basis des zweiten. Im Juli 2008 hatte man bereits von unserer Aktion gehört und wir bekamen doppelt so viele Anfragen von Interessenten. Auch nahmen diesmal ausländische Freiwillige teil, zwei Engländer, zwei Deutsche, zwei Holländer und eine junge Frau aus Weißrussland. Angesichts der ebenso unterschiedlichen Nationalitäten der russländischen TeilnehmerInnen kann man sagen, dass sich eine richtig internationale Arbeitsbrigade gebildet hat. Es war eine sehr bunte Gruppe, vielgestaltig in Alter und Sprache. Allerdings führen manchmal Faktoren, die die Zusammenarbeit eigentlich erschweren müssten, oftmals zu einem zusätzlichen Erfolg.

Dieses Mal hatten wir uns vorgenommen ein Museum aufzubauen. Ein ungewöhnliches Museum. Ein Museum ohne Museumsführer. Und wenn es einen gäbe, dann sollte der Besucher selbst in diese Rolle schlüpfen können. Mit all seinen Kenntnissen und seinem persönlichen Blick auf die Vergangenheit, seinem Wunsch, in seinem Bewusstsein eine ganze Epoche zu rekonstruieren, die in diesem verfallenen ehemaligen Straflager verborgen ist. Warum so ein Museum? Was heißt hier „Rekonstruktion des Bewusstseins“? Und wofür soll das gut sein?

Die Einbindung eines beliebigen Objekts in einen öffentlichen Erinnerungszusammenhang, sei es ein Haus, eine Straße oder eine Siedlung, setzt nicht nur die tiefgründige Erforschung des Forschungsobjekts voraus sowie die Tradierung in Form von Zeitzeugeninterviews, Texten, Fotografien, Gedenktafeln oder in einer anderen Weise, sondern auch die Überlieferung dieser Erinnerung an ein größerer Auditorium. Aus Erfahrung wissen wir, dass die Überlieferung und Tradierung am besten in Form eines Museums erfolgen kann, da das Museum ist, an dem unterschiedlichste Quellen nebeneinander präsentiert werden können. Neben den Quellen, die im Museum Auskunft über die Vergangenheit geben, ist in einem Museum der Museumsführer von Bedeutung. Er verfügt in der Regel über zusätzliche Informationen, die uns allein bei der Betrachtung der Objekte verborgen bleiben würden.

Selbstverständlich können wir in Stvor kein Museum mit den unterschiedlichsten Quellen aufbauen, die präsentiert werden können, oder gar mit einer ständigen Ausstellung, die durch Führungen begleitet werden können. Aber das erachten wir auch nicht als notwendig! Das ehemalige Lager ist ein großes und äußerst interessantes Exponat unter freiem Himmel, ein Freilichtmuseum. Die Markierung und Beschreibung der wichtigsten Exponate kann zusammen mit einigen Zusatzinformationen genug Anstoß vor allem für junge Leute bieten um nachzudenken. Die ausdruckstarken und für sich sprechenden Fragmente des ehemaligen Lagers bieten die Grundlage dafür: Fundamente der Gefangenenbaracken, Überreste der Werkanlagen und die vielfältigen Alltags- und Gebrauchsgegenstände aus dem Häftlingsalltag.

Diese Arbeit verrichteten die jungen Freiwilligen im zweiten Sommerlager. Zwei Exponate wurden dafür ausgewählt. Eine ehemalige Gefangenenbaracke und der ehemalige Strafisolator des Lagers, d.h. der Karzer, das Lagergefängnis.

Ein ganz normaler Arbeitstag im Sommerlager
(aus den Tagebuchaufzeichnungen)

 …Der Weg von unserem Basislager bis zum ehemaligen Straflager dauert eine halbe Stunde. Die Gruppe zersplittert sich und streckt sich lang hin. Es ist heiß. Die Sonne steht schon hoch. Zwar ist die größte Hitze noch nicht da, aber alle spüren, dass die Mittagshitze näher rückt. Sobald wir am Zentralplatz und bei der Holzkonstruktion angekommen sind, werden einige nach Wasser geschickt. 200 Meter entfernt befindet sich am Fuße des Felsens Pečka eine Quelle mit kristallklarem Wasser. Einstweilen stellen wir unsere Arbeitsgeräte an die Wand und ruhen kurz aus. Wir warten auf die, die am Weg zurückgeblieben sind. Hier im Schatten ist es angenehm. Die Baumkronen der Birken verdecken den Himmel über uns. Es wäre schön, jetzt einfach liegenzubleiben, aber diesen Gedanken versuchen wir zu verscheuchen. Arbeit ist nun mal Arbeit.

Ich teile die jungen Leute in Arbeitsbrigaden ein. Im Prinzip haben wir das gestern schon gemacht: die einen wollen unbedingt weiter an den Wegweisern malen, die anderen bevorzugen archäologische Grabungen, suchen nach Artefakten und graben im Boden. Wieder andere erklären sich bereit, Gruben für die Pfähle auszuheben. Zu tun gibt es für alle. Langsam gehen alle auseinander und gehen an ihren Plätzen der Arbeit nach.

Die Permer Studentinnen Irina, Mascha und Oksana legen Holzbretter auf Ziegelsteine aus sowie Farbe, Pinsel und Lack bereit. Sie fertigen daraus Wegweiser, die sie am Ende des Tages an Pfählen am Eingang des ehemaligen Lagers montieren werden. Es entsteht ein Wegweiser für die Reise durch den GULAG mit Distanzangaben zu den einzelnen Objekten: „Zum Karzer 600 Meter, zu den Werkstätten 200 Meter, zum Eingangskontrollpunkt 500 Meter, zu den Gefangenbaracken 300 Meter…“

Volodja Mirkin aus Tomsk, ein alter Freund und langjähriger Expeditionsteilnehmer, hebt eine Grube für den Pfahl aus, an dem die Wegweiser angebracht werden sollen. Die Arbeit ist schwerer als gedacht. Denn unter der oberen Erdschicht kommen eine Steinschicht und die hölzernen Überreste der ehemaligen Bodenverfestigung des Straflagers, die ležnevki, zum Vorschein. So nannten man in den 1940er bis 1960er Jahren die Verstärkung des Bodens, mit deren Hilfe die Wege auf dem meist sumpfigen oder überschwemmtem Untergrund in der Taiga befestigt wurden. Zum Bau dieser Wegestraßen wurden lange Holzbretter wie Eisenbahnschienen aneinandergereiht und mit quergelegten Brettern verstärkt. Auf ihnen konnten die Lastwägen in den lang andauernden Wintern fahren. Im Frühjahr und im Herbst wurden diese Wege durch die Witterung meist ausgewaschen und mussten von den Gefangenen neu errichtet werden. Dies war unbedingt notwendig, da diese „Strassen“ die Versorgung aufrechterhielten und das Außenlager mit der Außenwelt, auch mit der Lageradministration, verbanden. Im Sommer wurde die Versorgung über den Wasserweg auf der Čusovaja gewährleistet.

Die Schaufel kratzt auf den Steinen. Aus der Grube werden immer größere Holzstücke hervorgeholt. Es gräbt sich schwer. Aber ich weiß, Volodja ist beharrlich und am Ende des Tages wird die Grube fertig sein.

Die Mehrzahl der TeilnehmerInnen arbeitet heute an den ehemaligen Gefangenbaracken. Die Aufgabe ist einfach: das Ziegelstein-Fundament von Gräsern und Sträuchern zu säubern. Am Anfang war den jungen Frauen die Arbeit nicht recht, aber dann gefiel es ihnen ganz gut, denn es gibt genug Schatten und die Arbeit geht leicht von der Hand. Langsam kommen die wichtigsten Elemente des Gebäudes zum Vorschein: Wände, Eckpfeiler, die Überreste der Öfen (pečki-buržuiki). Die jungen Männer, ein Schotte und ein Deutscher, markieren den Verlauf des Gebäudes mit einem Spezialband. Sie müssen ihre Arbeit immer wieder unterbrechen, um Äste und Hölzer, aber auch schwere Metallgegenstände zu entfernen.

Als ich kurz einen Ziegelhaufen untersuche, finde ich überraschend einen bereits „alten Bekannten“: Einen Ziegelstein mit der Aufschrift „Ponyšlag“. Auch in den Vorjahren haben wir ein paar gefunden, aber äußerst selten. Das ist nicht verwunderlich, denn im Lager produzierte Güter wurde in den seltensten Fällen als solche gekennzeichnet. Die Lagerleiter und die Parteibonzen haben vielmehr versucht, die wirtschaftliche Bedeutung des Gulagimperiums und die Bedeutung der Gefangenarbeit zu verschleiern. Deshalb waren Kennzeichnungen auf der Produktion äußerst selten. Mit großer Wahrscheinlichkeit wurden die Ziegelsteine mit der Aufschrift «L/O №1 PONYŠLAG» (Lagerabteilung №1 des Ponyšer Lagers) für interne Zwecke gebraucht. Mein Fund beflügelt alle. Hier ist sie, die Geschichte! Die Ergebnisse weiterer archäologischer Untersuchungen lassen nicht lange auf sich warten, denn die jungen Leute finden weitere Überreste der Ziegelproduktion des ehemaligen Straflagers.

 Alle Alltags- und Gebrauchsgegenstände – Knöpfe, Brillen, Geschirr, Türklinken, Schuhe, Kleidungsstücke, Werkzeug – werden zusammengetragen und an einem bestimmten Ort gestapelt. Eine Idee des deutschen Freiwilligen Michael. Um eine Hinweistafel herum bauen
wir eine niedrige, aber feste Einzäunung. Gleich wird jedem Freiwilligen klar, was damit bezweckt wird: Jeder zukünftige Besucher kann hier nun die Gegenstände anschauen, in die Hand nehmen, berühren und betrachten. Einen materiellen Wert haben sie nicht. Es wäre ziemlich komisch, wenn sie irgendwer entfernen würde. Viel wahrscheinlicher ist es, dass der Stapel durch noch Herumliegendes ergänzt wird. Zum Nachdenken regen die Gegenstände in jedem Fall an.

Eine junge Frau schlägt vor, das gefundene Fenstergitter (das zu Lagerzeiten für die Gefangenenbaracken vorgeschrieben war) an einer gespannten Schnur parallel zur Baracke anzubringen. Das sieht eindrucksvoll aus! Die Ruine der Baracke, die sich auf Bodenhöhe abzeichnete, begann sich so zu erheben.

Im Laufe des Tages haben die jungen Männer aus den Tiefen des ehemaligen Lagers die fast vollständigen Überreste eines Doppelstockbettes hervorgeholt. Da das Lager in den 1940-1950er Jahren auch als „Rekonvaleszentenlager“ für Gefangene nach durchstandender Krankheit diente (auch wenn das zynisch klingt) und hier viele Invalide interniert waren, gab es hier anstatt Holzbetten eine große Zahl metallischer Doppelstockbetten. Das Bett fügten wir zum Artefakte-Stapel hinzu und es vervollständigte so das Bild. Daneben stellten wir noch ein Schild mit dem Hinweis auf:„Gefangenbaracke. An dieser Stelle stand eine der Gefangenbaracke des Lagers Stvor“. In den 1940er bis 1950er Jahren entsprachen die Unterkunftsbaracken der Gefangenen dem für den ganzen Stalinschen Gulag geltenden Standard: Holzbaracken in Gerüstbauweise mit einer Länge bis zu 50 Metern und einer Breite bis zu 10 Metern. Innerhalb der Baracken befanden sich Holzdoppelstockbetten, meist für 200 bis 250 Personen. In der Winterperiode wurden die Baracken von kleinen Öfen geheizt, deren Überreste bis heute zu sehen sind. Enge, Qualm, Gestank, Kälte, Krankheit und abstoßende hygienische Bedingungen bestimmten das Leben im GULAG.

Bei der Geländebegehung helfen mir die Permer Andrej und Ramil. Wir tragen die interessantesten Gegenstände zusammen und planen die Arbeit des nächsten Tages. Dann schließen wir uns der Arbeit der anderen am ehemaligen Karzer an. Wie jedes andere Lagergefängnis auch wurde in Stvor der Strafisolator durch einen zusätzlichen Zaun vom Rest des Lagers getrennt. In Stvor wurde der Karzer direkt an der östlichen Neigung des Felsens gebaut, auf einer von den Gefangenen herausgeschlagenen Einbuchtung. Von Hand gemeißelt, versteht sich.

Vom Gebäude selbst ist kaum etwas erhalten. Aber die jungen Freiwilligen verzagen nicht. Unter der ersten Erdschicht, verwachsen mit Gräsern und Sträuchern, kommt das Fundament zum Vorschein. An die Oberfläche gelangen Holztüren, eingefasst mit Metallteilen und der typischen “Futterluke“. Alesja aus Weißrussland und Nadja aus Perm legen den Weg zur nächsten fast bis zur Hälfte verwachsenen Tür frei. Es ist eine Holzzauntür, aber zwischen den Rahmen ist Stacheldraht gespannt. Vielleicht wurde sie als Eingangstor zum Karzer verwendet, mutmaßen die jungen Freiwilligen. Ein weiteres Rätsel und Anlass zum Gespräch am abendlichen Lagerfeuer.

Über Funk werde ich vom Basislager gerufen. Das Essen ist fertig. Nur langsam kommen alle am Zentralplatz zusammen. Auf dem Weg zurück ins Basislager werden die Eindrücke besprochen. Das Gespräch verstummt keine Minute. Was habt ihr gefunden? Wofür war es vorgesehen? Wie ist es gebraucht worden? Warum haben sie den Karzer so hoch und am Felsen gebaut? War es möglich von hier zu fliehen? Und ein Freiwilliger kann seinen Tatendrang gar nicht mehr halten: „Was machen wir morgen?“. „Morgen“, sage ich, „werden wir noch drei Infotafeln aufstellen und am Eingangskontrollpunkt eine große Aufschrift anbringen, die die Touristen aufmerksam machen soll“.

Am Zentralplatz wartet nicht nur der Koch und das Essen, sondern ….eine Gruppe von Touristen. Es sind Erwachsene, viele Ältere unter ihnen. Sie lesen die Informationen an den Tafeln aufmerksam, beginnen die Gegenstände zu begutachten. Aus den Gesprächen wird deutlich, dass es sich um Lehrer handelt, die ihren Urlaub gemeinsam mit einer Tour auf der Čusovaja verbringen. Ich erzähle ihnen ein wenig vom ehemaligen Lager und seiner Geschichte. Die Pädagogen folgen den von uns ausgetretenen Pfaden und schauen sich alles an. Sie kommen deutlich beeindruckt und berührt zurück. „Also ist es nicht umsonst!“. Dieser Gedanke verbindet uns Freiwillige. Und wir wiederholen ihn erneut, als die dritte Gruppe Touristen für heute vorbeikommt.

Ein bisschen verlegen vom Lob der Lehrer essen wir unsere leckere Suppe zu Ende. Es erwartet uns noch ein kaltes Kompott. Die Köche waren wunderbar! Und in einer halben Stunde kehren wir zu unseren Objekten zurück. Wir machen gute und notwendige Arbeit…

Anstelle eines Schlusswortes

Ich weiß, dass es Menschen gibt, die nicht verstehen, warum wir diese Arbeit machen. Auch
heute gibt es noch viele in unserem Land, die glauben, dass die Repressionen der Sowjetzeit nur eine kleine Minderheit betrafen und dass die Betroffenen dem staatlichen Terror nicht grundlos zum Opfer fielen. Auch finden sich sicherlich Kritiker, die unseren unprofessionellen und bis zu einem gewissen Grad dilettantischen Umgang bei der Bewahrung der Erinnerung verurteilen. Und vielleicht werfen sie uns auch vor, dass wir auf diese Weise die Wurzeln dessen, was unter Begriffen wie „historische Forschung“, „Rekonstruktion der Erinnerung“, „Museum“ usw. verstanden wird, kaputt machen.

 Aber das macht mir keine Angst. Vor allem weil dieses Jugendprojekt etwas Wichtiges, etwas Positives beinhaltet, was es von so manch anderem Versuch, die Geschichte der tragischen Vergangenheit zu verstehen, unterscheidet. Durch die Teilnahme an dieser gesellschaftlichen Initiative und dem Bau eines „eigenen Museums“ versteht sich jeder als Teil der Geschichte und nimmt diesen widersprüchlichen und nicht immer einfachen Prozess in sich auf. Sie durchleben die Geschichte auf ihre Weise, verinnerlichen sie und können sich anschließend schon nicht mehr des bequemen und beruhigenden Standards bedienen, an denen die Welt des russischen Spießbürgers so reich ist. Ich bin davon überzeugt, dass dieses Projekt ganz unterschiedliche Emotionen und Handlungsweisen hervorbringen mag, aber gewiss nicht den Wunsch, jemanden zu unterdrücken, ihn zu verraten, Gewalt anzuwenden oder Gewaltanwendung anderen gegenüber zu befürworten. Hier kann man sich als Bürger begreifen, als ein Mensch, der weiß und versteht, dass von ihm und seinem Handeln in dieser Welt, in diesem Land, viel abhängt.

(freie Übersetzung aus dem Russischen: Ulrike Huhn, Manuela Putz)

Тема: Deutsch / печать /
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